Was uns der Barock heute noch lehren kann
Wer den Barock (1600 - 1720) verstehen will, der kommt nicht darum herum, sich zunächst mit den geschichtlichen Hintergründen dieser Literaturepoche zu beschäftigen. Wir befinden uns in der Mitte des 17. Jahrhunderts. Soeben hat der Dreißigjährige Krieg eine Schneise aus Krieg und Zerstörung quer durch Europa gezogen und so viele Opfer gefordert wie kein anderer Krieg zuvor. Man vermutet heute, dass – mit regionalen Unterschieden – etwa 40 bis 70 % der Bevölkerung dem Wüten des Krieges zum Opfer gefallen sind. Wer nicht direkt in den Kampfhandlungen ums Leben kam, der verhungerte, erlag den erbarmungslosen Seuchen oder wurde ausgeraubt und erschlagen. Nach einem solchen Krieg, der Europa unendlich lange 30 Jahre in seinen Fängen gehalten hatte, konnte einfach nichts mehr so sein, wie es einmal gewesen war. Wer der Hölle entkommen war, konnte nicht vergessen, was er erlebt hatte – und das führte im Barock zu zwei Extremen, die sich auf den ersten Blick kaum vereinen lassen, die aber auf den zweiten Blick nur zwei Seiten derselben Medaille sind.
Die zentralen Gegensätze im Barock
Da steht auf der einen Seite die unbändige Lust am Leben, die mit der Sehnsucht einhergeht, jedem einzelnen Tag alles abzuringen, was er zu bieten hat, aus den Vollen zu schöpfen und nur für den Moment zu leben. Wir kennen diesen Drang noch heute unter dem Motto „Carpe diem“. Der lateinische Satz lautet wörtlich übersetzt: „Pflücke den Tag“ und fordert dazu auf, den Tag in vollen Zügen zu genießen. Bereits im ersten Jahrhundert hatte der römische Dichter Horaz diesem Gefühl mit seiner Ode „An Leukonöe“ ein Denkmal gesetzt. Horaz meinte schon damals, dass jeder Moment wertvoll sei, man ihn genießen und das Leben immer positiv sehen solle. Der Barock erweiterte diesen sehr lobenswerten Ansatz um einen leicht hedonistischen Gedanken. Hier bedeutete „Carpe Diem“ die vollständige Hinwendung zur Gegenwart, zum Weltlichen und all den Freuden und auch Lastern, die das irdische Leben zu bieten hat. Dem Jenseits wurde das Diesseits gegenübergestellt, dem Tod das Leben, dem Ernst das Spiel, der Askese die Erotik. Genieße jeden Tag, es könnte dein letzter sein.
Dieser zweite Gedanke spielte in der Barock-Literatur ebenfalls eine sehr wichtige Rolle: „Memento mori“ war das zweite Motto dieser Epoche. Es leitet sich von dem lateinischen Satz „Memento moriendum esse“ ab, das wörtlich übersetzt heißt: „Bedenke, dass du sterben musst.“ Auch das ist etwas, was die Menschen des Barocks im Dreißigjährigen Krieg gelernt haben. Der Tod kann jederzeit nur einen Wimpernschlag entfernt sein. Und selbst wenn nicht - irgendwo wartet er. Alles ist vergänglich. „Vanitas vanitatum et omnia vanitas“ hieß es deshalb im Barock. „Eitelkeit der Eitelkeiten und alles ist Eitelkeit“, so ließe sich dieser Satz übersetzen. Kurz: „Alles ist eitel“. Gemeint ist jedoch nicht Eitelkeit im heutigen Sinne von Selbstherrlichkeit, sondern allgemein die Lüge, Prahlerei und Vergeblichkeit. Im Barock erinnert uns der Begriff Vanitas daran, dass die Dinge nur ein leerer Schein sind, dass sie nichtig sind, vergänglich und keinen wirklichen Wert haben. Nichts, woran wir zu Lebzeiten unser Herz hängen, hat in der Ewigkeit Bestand. Nur der Glaube allein. Der Mensch hat keine Gewalt über das Leben, die Zeit rinnt ihm durch die Hände und alles um ihn herum vergeht, so wie auch er vergehen wird. Totenköpfe und Sanduhren sind deshalb häufig auftretende Motive in der barocken Malerei.
Diese drei Begrifflichkeiten definieren also den Raum innerhalb dessen sich die Literatur des Barock bewegt. Da ist die pure Lebenslust, die bis an den Exzess ausgereizt wird. Sie jedoch resultiert aus dem Bewusstsein, dass alles irgendwann ein Ende hat und jeder Tag der letzte sein könnte. Im Angesicht des Todes bekommt das Leben eine ganz neue Bedeutung, man lernt es zu schätzen. Im ständigen Bewusstsein der Vergänglichkeit allen irdischen Lebens misst man dem Tag eine neue Bedeutung bei. Gleichzeitig ist das Jenseits aber stets präsent. Der Glaube ist den Menschen des Barock die einzige Möglichkeit, sich auf diese Zeit vorzubereiten, den Weg zu ebnen, sich einen Platz im Paradies zu sichern, den Höllenqualen zu entkommen. Das Weltbild der Barock-Literatur lässt sich so recht klar umreißen.
Was wir aus der Barock-Literatur lernen
Wenn wir also Gedichte, Dramen und Romane des Barock lesen, werden wir immer wieder auf diese Motive stoßen. Doch all das erleben wir natürlich nicht anhand des Schicksals des einfachen Mannes. Der Absolutismus war in Europa allgegenwärtig und die Dichter deshalb fest davon überzeugt, dass sich diese großen Themen nur am Schicksal der Herrschenden erzählen ließen. Heute kennen wir diese These als „Ständeklausel“ des Barock. Der Hof war der Schauplatz der Literatur, sein Sprachschatz die Literatursprache der Zeit. Die Dichter und Schriftsteller des Barock neigten zur Überhöhung, zum Pathos, zur Übersteigerung ins Grandiose. Vieles davon wirkt heute für uns allzu inszeniert und lebensfern. Unweigerlich fragt man sich dann, was uns der Barock heute noch vermitteln kann, da wir doch jetzt wissen, dass die Herrschenden nicht unfehlbar sind und der Absolutismus längst der Vergangenheit angehört. Das Schicksal des Individuums interessiert uns heute – unabhängig von seinem Stand – viel mehr als das Schicksal in seiner stereotypen Form. Warum also sollte man die Werke der Barock-Literatur noch lesen wollen?
Der Barock erinnert uns an etwas, das wir allzu häufig vergessen, während wir Tag für Tag dem Geld hinterher rennen, dem Ideal dessen, was wir uns vom Leben erhoffen, dem, was wir sein wollen, aber noch nicht sind. Der Barock erinnert uns daran, dass es nicht selbstverständlich ist, dass wir in Sicherheit sind, dass wir eine Zukunft planen können, dass es uns im Prinzip an nichts fehlt. Wer in den 1980er Jahren in Deutschland geboren worden ist, hat nie einen Krieg im eigenen Land miterlebt und nie die Bedrohung eines möglichen Krieges gespürt. Er kennt nur die Sicherheit und sollte dankbar dafür sein. Die Literatur des Barock erinnert uns daran, dass es genauso gut auch anders sein könnte und das gemahnt uns, uns auf das Wesentliche zu besinnen. Nicht die Dinge, die wir kaufen, sind es, die das Leben lebenswert machen, sondern das, was wir an jedem einzelnen Tag aus unserem Leben machen. Ob wir Menschen haben, die wir lieben und die uns lieben. Und ob wir – um mit Mark Twain zu sprechen - jedem Tag die Chance gegeben haben, der beste unseres Lebens zu werden. Das allein zählt, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass unser Leben nicht unendlich ist, wenn wir uns damit beschäftigen, dass wir – so wie alles andere auch – vergänglich sind.
Der Literatur des Barock gelingt es sehr gut, uns daran zu erinnern und uns dafür zu sensibilisieren. Schon deshalb sollte man das eine oder andere Drama, das eine oder andere Sonnet oder einen Roman des Barock gelesen haben. Und, weil es sich dabei um richtig gute Literatur handelt.
Diese Werke des Barock können wir Ihnen dafür sehr empfehlen:
- Absurda Comica: oder Herr Peter Squenz von Andreas Gryphius
- Andreas Gryphius: Gesammelte Werke
- Buch von der deutschen Poeterei von Martin Opitz
- Christian Hofmann von Hofmannswaldau: Gedichte
- Cleopatra: Trauerspiel
- Der Abenteuerliche Simplicissimus Teutsch
- Der cherubinische Wandersmann von Angelus Silesius
- Deutsche Gedichte von Paul Fleming
- Gedichte des Barock
- Horribilicribrifax von Andreas Gryphius
- Ibrahim Sultan: Schauspiel von Daniel Casper von Lohenstein
- Leo Armenius: oder Fürsten-Mord von Andreas Gryphius
- Sophonisbe
Wenn Sie die Lehren des Barock in Ihren Alltag integrieren wollen, können wir Ihnen auch Bücher zum Tod und Sterben und Bücher zur Lebenshilfe empfehlen.
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