Fünf gute Gründe für Kurzgeschichten
Als der Literaturnobelpreis 2013 an Alice Munro verliehen wurde, rückte eine besondere Form der Prosa in den Mittelpunkt des literarischen Interesses, die seit Längerem ein Schattendasein fristete: die Kurzgeschichte. Ihren Höhepunkt erlebte sie, die zunächst vor allem im angloamerikanischen Raum als „Short Story“ verbreitet war und dort von so angesehenen Autoren, wie Ernest Hemingway, Edgar Allan Poe, F. Scott Fitzgerald, William Faulkner und Sinclair Lewis gepflegt wurde, im 19. Jahrhundert. Zu jener Zeit trat die Zeitung ihren Siegeszug an und das Abdrucken der Kurzgeschichten in den Zeitungen erwies sich für die Autoren als wesentlich rentabler als die Veröffentlichung von Büchern. Wahrscheinlich ist das einer der Gründe dafür, warum die Kurzgeschichte häufig unterschätzt wird. Dabei ist sie eine Gattung, die Hochachtung verdient. Wir haben deshalb fünf Gründe für Sie zusammengetragen, warum Sie hin und wieder zu Kurzgeschichten greifen sollten.
1. Lang kann jeder: Kurzgeschichten als Kunst
Der spanische Nobelpreisträger Vicente Aleixandre sagte einmal: „Eine Kurzgeschichte ist eine Geschichte, an der man sehr lange arbeiten muss, bis sie kurz ist.“ Und tatsächlich ist eine Kurzgeschichte nicht der Ausdruck davon, dass der Autor nichts oder nicht genug zu sagen hatte, um damit einen Roman zu füllen. Im Gegenteil: Er versteht es, das, was er sagen möchte, in so eine knappe, präzise Form zu bringen, dass vieles gar nicht extra erwähnt werden muss. Das, was in einem Roman über Seiten hinweg eingeführt, beschrieben und erklärt werden kann, bekommt in Kurzgeschichten viel weniger Raum, muss sich häufig auf wenige Wörter und Sätze beschränken. Das fordert vom Schriftsteller die Fähigkeit, in Metaphern, Andeutungen und Symbolen ganze Szenen heraufzubeschwören. Weniger ist hier mehr. Gelingt es dem Autor mit wenigen Strichen ein ganzes Gemälde zu zeichnen, darf man das mit Fug und Recht als wahre Kunst bezeichnen. Nicht zuletzt deswegen entscheiden sich viele Autoren gegen die Kurzgeschichte. Natürlich darf man nicht ignorieren, dass die Kürze eine Entwicklung von Figuren und Handlungen ausschließt – etwas, das für viele Schriftsteller (und Leser) das Wesen von Literatur ausmacht – doch die Momentaufnahme, das beinahe brutale Herausreißen eines besonderen Momentes aus dem alltäglichen Leben, hat einen ganz eigenen Reiz – und den sollte man sich hin und wieder mit einer guten Kurzgeschichte gönnen.
2. Kurzgeschichten als Herausforderungen für den Leser
Diese komprimierte Form fordert aber nicht nur den Autor heraus, sondern fordert auch vom Leser, dass er mitdenkt, Lücken schließt, kombiniert, zwischen den Zeilen liest und sich nicht alles haarklein erklären lässt. Ernest Hemingway nannte das die „Iceberg Theory“, die als das „Eisbergmodell“ in die Literaturtheorie eingegangen ist. Hemingway zufolge soll ein Prosaschriftsteller, der genug davon versteht, worüber er schreibt, aussparen, was ihm klar ist. „Wenn der Schriftsteller nur aufrichtig genug schreibt, wird der Leser das Ausgelassene genauso stark empfinden, als hätte der Autor es zu Papier gebracht. Ein Eisberg bewegt sich darum so anmutig, da sich nur ein Achtel von ihm über Wasser befindet.“ Im Prinzip bedeutet das nichts anderes, als dass jedes Wort, das der Autor schreibt, von vielen begleitet wird, die nie ausformuliert worden sind, die für die Handlung aber dennoch eine Rolle spielen. Der Autor geht nur einfach davon aus, dass der Leser in der Lage ist, die Lücken selbst zu schließen. Kurzgeschichten sind also Geschichten, die sich nicht sofort erschließen. In ihrer Mehrdeutigkeit erfordern sie vom Leser die Fähigkeit, zu übertragen. Eine scheinbar banale Alltagssituation kann in einer Kurzgeschichte für einen wesentlich komplexeren Sachverhalt stehen, der sich aber erst dann erschließt, wenn der Leser bereit ist, über die Sprachebene hinaus in die Kurzgeschichten einzudringen. Anstatt sich also das Denken abnehmen und einfach nur unterhalten zu lassen, dürfen Sie in Kurzgeschichten selbst grübeln. Bei intelligenten und gut durchdachten Kurzgeschichten macht das richtig Spaß - also ein guter Grund hin und wieder zu Kurzgeschichten zu greifen.
3. Kurzgeschichten als kleines Lesevergnügen zwischendurch
Und das kann man öfter machen, als man glaubt. Denn während man sich mit einem Roman immer auf ein mindestens mehrtägiges Rendezvous einlässt, sind Kurzgeschichten literarische Häppchen, die man in einem einzigen Zug durchlesen kann. Nobelpreisträgerin Alice Munro ist da so ein bisschen die Ausnahme, denn sie reizt das, was das Genre an Ausmaßen hergibt, nicht selten bis zur Neige aus. Die meisten anderen Kurzgeschichten aber lesen sich in 20 bis 30 Minuten. Das ist ideal für den kleinen literarischen Hunger am Abend oder für die Lesepause zwischendurch. Der Leser bleibt also die ganze Zeit über in der Handlung, muss nicht aus ihr auftauchen und erlebt sie so wesentlich unmittelbarer mit als in einem Roman. Im Gegensatz zu diesem sind erzählte Zeit und Erzählzeit in Kurzgeschichten häufig identisch. Der Leser erlebt also die Situation so minutiös mit, wie die Figuren sie erleben. Er ist ganz dicht am Geschehen dran, verpasst nichts und steuert so unbeirrbar auf die unvermeidliche Pointe hin, die sowohl den Protagonisten als auch dem Leser nicht selten den Boden unter den Füßen wegzieht. Zugleich ist die Zeit, in der die Kurzgeschichte gelesen wird, nicht identisch mit der Zeit, in der man sich mit ihr auseinandersetzt. Der Autor schreibt ein Hundertfaches von der Zeit, die es zum Lesen braucht, an dem Buch und auch der Leser setzt sich noch einige Zeit, nachdem das letzte Wort verklungen ist, mit dem Gelesenen auseinander. Nur so funktionieren Kurzgeschichten ja.
4. Kurzgeschichten poetisieren den Alltag des Lesers
Zugleich geht mit der Einheit von erzählter Zeit und Erzählzeit eine große Authentizität einher. Kurzgeschichten schildern in der Regel Alltagssituationen, wie sie jeder von uns kennt. Auch deshalb können sich die Autoren eine lange Einleitung sparen. Kurzgeschichten springen in die Handlung – und springen am Ende genauso wieder aus ihr heraus. Wolfdietrich Schnurre nannte die Kurzgeschichte in seinem Buch „Kritik und Waffe. Zur Problematik der Kurzgeschichte“ deshalb „ein Stück herausgerissenes Leben“. Wir werden in das Leben von fremden Personen geworfen, das sich von dem unseren in der Regel kaum unterscheidet. Das erleichtert die Identifikation mit der Figur und das Verständnis für das, was nun kommt. Der Moment scheint zunächst willkürlich gewählt. Doch dann geschieht etwas, das alles verändert, die Pointe, die den Leser in einem entscheidenden Moment wieder aus der Situation herausschleudert. Er ist dann aufgewühlt, nimmt Anteil und setzt sich gezwungener Maßen noch nach dem Ende der Lektüre mit dem auseinander, was er gelesen hat. Und das, obwohl es sich eigentlich nur um eine ganz alltägliche Situation handelt, die anders verläuft, als man zunächst glaubt. Der Autor vollbringt also ein Stück Magie. Er nimmt einen Moment aus der unendlichen Vielzahl von Momenten und hebt ihn dadurch hervor, misst ihm Bedeutung bei. Und dieser Bedeutungsschwere kann sich der Leser nicht entziehen. Auch das ist ein Teil der Kunst, die in Kurzgeschichten liegt.
5. Die Pointe – das Beste an Kurzgeschichten zum Schluss
Die Pointe ist das, was Kurzgeschichten schlussendlich – im wahrsten Sinne des Wortes – zum Lesevergnügen macht. Man weiß von Anfang an, dass der Autor einen nur in der trügerischen Sicherheit wiegt, zu wissen, wie sich die Situation entwickeln wird. Von Anfang an spürt man, dass man misstrauisch ist, auf der Lauer liegt. Womit wird mich der Autor überraschen, von wo wird die Pointe kommen, was habe ich übersehen? Das macht die Lektüre von Kurzgeschichten zum prickelnden Vergnügen. Auch deshalb, weil der Autor in der Regel trotzdem schlauer ist als sein wachsamer Leser. Er lässt ihn wieder und wieder ins offene Messer laufen. In einer Zeit, in der uns viele Bücher kalt lassen, weil es ihnen nicht mehr gelingt, uns zu überraschen, sind Kurzgeschichten deshalb eine wahre Bereicherung für jeden Leser. Wie vom Donner gerührt stehen wir dann da und können nicht fassen, dass der Autor uns hier so verletzlich zurückgelassen hat. Und dann passiert etwas, was man wohl als Sucht nach Kurzgeschichten bezeichnen könnte. Man möchte diesen Moment, den Sturz, in dem der Autor den Leser fallen lässt, wieder erleben. Das Ende einer Kurzgeschichte ist ein literarischer Bungee-Sprung – und wer einmal Blut geleckt hat, der bekommt davon nie genug.
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