Die Epik als Königin der Herzen
Die Epik ist eine der drei Hauptgattungen der Literatur. Doch im Gegensatz zu ihren Schwestern, der Lyrik und der Dramatik, hat sich die Epik heute flächendeckend durchgesetzt. Nicht Gedichte oder Theaterstücke dominieren die Bestsellerlisten und Buchläden, sondern die Werke der epischen, der erzählenden Literatur. Ab und zu schleicht sich auch ein Gedichtband dazwischen, ab und zu hört man von gefeierten Theaterstücken, doch mit der Beliebtheit der modernen Epik können es die anderen beiden einfach nicht aufnehmen.
Das war jedoch nicht immer so. Als Johann Wolfgang von Goethe die Literatur im frühen 19. Jahrhundert in ihre drei Naturformen untergliederte und damit das heutige Gattungssystem von Epik, Lyrik und Drama erschuf, waren die drei Gattungen ganz anders verteilt. Goethe selbst war ein großer Dichter und Dramatiker. Sein „Faust“, ein wegweisendes Werk seiner Zeit, war beispielsweise ein Drama. Die erzählende Kunst war damals weniger hoch angesehen, galt sie doch als völkisch. Romane gab es in dieser Form damals eher weniger; den Löwenanteil der Epik machten Märchen und Sagen aus, die von den hohen Dichtern als einfach und anspruchslos betrachtet wurden. Erst mit der Romantik wandelte sich dieses Bild langsam, als die Gebrüder Jakob und Wilhelm Grimm begannen, den Märchenschatz zu verschriftlichen.
Warum wir die Epik so sehr lieben
Alle drei Schwestern der Literatur haben ihren Ursprung in der Antike, waren dort jedoch unterschiedlich beliebt. Schon bevor die Menschen schreiben konnten, überlieferten sie Erzählungen, Legenden, Mythen und Geschichten in der gereimten, kunstvollen Form der Lyrik. Hier kam es auf jedes Wort an und die kunstvolle Form erleichterte nicht nur das Auswendiglernen und das Einprägen, sie vergrößerte auch den Spaß der Zuhörer. Bis heute finden viele Menschen Genuss in kunstfertig kreierten Sätzen und Formulierungen, in Wortspielen und feinsinnigen Reimen. Doch abends zu Hause, auf der Couch, da lesen wir eher keine Gedichte. Sie fordern mehr von uns, als wir nach einem anstrengenden Tag auf der Arbeit in der Regel zu geben bereit sind.
Ähnlich verhält es sich mit der Dramatik, die ihren Ursprung in der griechischen Antike im 5. Jahrhundert hatte. Damals hieß sie noch Tragödie und entstammte den Federn so großartiger Dichter wie Sophokles und Euripides, deren Namen uns heute noch sehr geläufig sind. Das Drama zeichnet sich dadurch aus, dass die Handlung in Dialogen und „Regieanweisungen“ erzählt wird. Das hemmt den Lesefluss aus heutiger Sicht ein bisschen und fordert große Konzentration vom Leser. Richtig gelesen werden Dramen deshalb wahrscheinlich heute nur noch selten. Wer ein Drama erleben möchte, geht ins Theater. Ausnahmen stellen natürlich die großen Klassiker der Literaturgeschichte dar, die Dramen von William Shakespeare oder Friedrich Schiller. Sie stammen aus einer Zeit, als das Drama noch weit verbreitet war, als die meisten Menschen aber nicht lesen konnten und deshalb darauf angewiesen waren, die Stücke dargeboten zu bekommen.
Der erste richtige Epiker der Literaturgeschichte war Homer, dessen Werke "Ilias" und "Odyssee" als erste Epen der Weltliteratur gelten. Es heißt, mit ihnen beginne erst die europäische Kultur- und Geistesgeschichte. Anders als die Dramen lasen sich die kunstvoll komponierten Hymnen Homers flüssig und entfalteten schon beim bloßen Lesen ihre Magie.
Der große Pluspunkt der modernen Epik
Es ist also kein Wunder, dass die Epik heutzutage beliebter ist als ihre beiden Geschwistergattungen. Romane kann man verschlingen, ohne über jedes Wort und jede Zeile nachdenken zu müssen, wie Gedichte das vom Leser fordern. Romane schildern und beschreiben und erwecken ganze Welten zum Leben, ohne dass wir unsere eigene Vorstellungskraft allzu sehr bemühen müssen. Darin unterscheiden sie sich von den Dramen. Liest man ein gutes Werk der Epik, ist es, als betrete man ein fertiges Bühnenbild und würde sich darin umsehen. Beim Lesen eines Theaterstücks hingegen fühlt man sich, als hätte der Künstler einen mit Brettern, Tüchern und Requisiten allein gelassen, die nun erst zu einem Bühnenbild zusammenzufügen sind. Daran ist jedoch nichts Schlechtes. Literatur darf und muss den Leser fordern, aber wer zum Vergnügen liest, wird sich häufig weniger anstrengen wollen. Das heißt im Umkehrschluss aber nicht, dass Epik belanglos und anspruchslos ist. Es gibt großartige Romane, die den Leser auffordern mitzudenken, weiterzudenken, zu hinterfragen, zu kombinieren und zu übertragen, Bücher, die alles andere sind, als leichte Lektüre.
Es ist die erzählende Komponente aller Werke der Epik, die ihre große Beliebtheit erklärt. Wir Menschen lieben es, Geschichten erzählt zu bekommen. Das war schon immer so und das wird auch immer so bleiben. So mancher Wissenschaftler geht sogar davon aus, dass es das Erzählen von Geschichten ist, was uns zu Menschen macht. Das Erzählen ist die früheste Form der Literatur, eine urmenschliche Art, Wissen weiterzugeben und überhaupt zu kommunizieren. Der erzählenden mündlichen Überlieferung verdanken wir einen Großteil unserer Kenntnisse über die Geschichte der Menschheit – nur deshalb, weil die Menschen schon immer gerne Geschichten erzählten und Geschichten hörten. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Wir sitzen war nun in der Regel nicht mehr gemeinsam ums Feuer und tauschen Geschichten aus, erzählen Märchen und Sagen oder lauschen den großen Helden-Epen, doch die moderne Epik ist ein ganz guter Ersatz dafür. Sie befriedigt unser Bedürfnis, mit guten Geschichten unterhalten zu werden.
Und genau aus diesem Grund wird es immer die Epik, die erzählende Literatur, sein, die den Gedichten und Theaterstücken im Buchladen und auf den Bestsellerlisten den Rang ablaufen wird. Genau deshalb legen wir auch hier, auf literaturtipps.de, den Fokus auf epische Werke, denn wir lieben es einfach, gute Geschichten erzählt zu bekommen und durch sie unterhalten zu werden!
In diesen ausgewählten Büchern erleben Sie die geballte Kraft der Epik und des Geschichtenerzählens:
- 1Q84
- Abendland
- Altes Land
- América
- Anleitung zum Alleinsein
- Aufbruch
- Ausweitung der Kampfzone
- Das Ende ist mein Anfang
- Das Komplott
- Das Museum der Unschuld
- Das Urteil
- Das verborgene Wort
- Das wilde Kind
- Die Abenteuer des Joel Spazierer
- Die Firma
- Die Korrekturen
- Die Möglichkeit einer Insel
- Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki
- Der alte König in seinem Exil
- Der Eisvogel
- Der Hecht, die Träume und das Portugiesische Café
- Der Turm: Geschichte aus einem versunkenen Land
- Ein fliehendes Pferd
- Ein Leben mehr
- Ein liebender Mann
- Es geht uns gut
- Eure Väter, wo sind sie? Und die Propheten, leben sie ewig?
- Fight Club
- Freiheit
- Gestalt des letzten Ufers
- Horcynus Orca
- Ilias
- Kafka am Strand
- Konzert ohne Dichter
- Madalyn
- Naokos Lächeln
- Ruhelos
- Schnee
- Selbstporträt mit Flusspferd
- Spiel der Zeit
- Tod eines Kritikers
- Unterwerfung
- Verflucht
- Von Männern, die keine Frauen haben
- Vor dem Fest
- Wenn das Schlachten vorbei ist
- Wilde Schafsjagd
- Zwei Herren am Strand
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