Elif Shafak
Elif Shafak (Jahrgang 1971) gehört zu den renommiertesten und meistgelesenen Schriftstellerinnen der Türkei und ist auch im Ausland sehr bekannt. Sie schreibt auf Türkisch und Englisch und erreicht so ein sehr breites Publikum, das sie für die Probleme in ihrer Heimat und in den Emigrantengemeinschaften sensibilisiert. Kein Wunder, dass ihre 12 Bücher in der Türkei zum Teil heftig umstritten sind. Ein zentrales Thema im Werk und in der journalistischen Arbeit von Elif Shafak ist die Ungleichbehandlung von Männern und Frauen in der Türkei. Dabei greift sie auf ein profundes Wissen zurück, schließlich hat Shafak Gender and Women's Studies in Ankara studiert. Für ihr politisches Engagement ist das eine gute Basis. Dennoch warf man ihr 2014 vor, ihr Roman „Ehre“, der den Ehrenmord thematisiert, habe keine eindeutige Haltung gegenüber der Gewalt gegen Frauen. Shafak glaubt, das liege daran, dass viele Menschen in der Türkei glauben, ein Buch könne nicht gleichzeitig populär und intellektuell sein. Sie selbst sieht das anders. Elif Shafak ist davon überzeugt, dass ein Buch eine klare, politische Haltung vertreten darf (und muss) und dabei trotzdem unterhalten kann: „Ich sehe Literatur nicht losgelöst von Politik, aber ich bin keine Politikerin. Was mich zum Schreiben antreibt, ist meine Vorstellungskraft.“
Doch Shafak weiß auch, dass sie mit politischen Äußerungen vorsichtig sein muss: „Worte wiegen schwer in der Türkei. Sie können einen schnell in Bedrängnis bringen. Deshalb ziehen viele Autoren Selbstzensur vor.“ So rief zum Beispiel ihr Roman „The Bastard of Istanbul“ heftige Reaktionen hervor und zog sogar eine Anklage nach sich. Dieses Schicksal teilt Shafak mit Orhan Pamuk. Der Vorwurf lautete: „Beleidigung des Türkentums“ nach Artikel 301, der immer noch nicht abgeschafft worden ist. Auch das ist ein Kritikpunkt von Elif Shafak. „Das war surreal“, kommentiert sie das Erlebnis in der FAZ. Doch 2006 kam das erlösende Urteil: Anklage abgewiesen. In der Urteilsbegründung hieß es: „Meinungsäußerungen, die mit der Absicht der Kritik erfolgt sind, stellen keine Straftat dar.“ Doch auch nach ihrem Freispruch musste Shafak von einem Bodyguard beschützt werden, der tätliche Angriffe auf die Schriftstellerin verhinderte. Auch damit ist Elif Shafak in der Türkei nicht alleine.
Ruhig halten kann sie aber dennoch nicht. Elif Shafak wurde als Tochter einer Diplomatin in Straßburg geboren, wuchs in Europa und Jordanien auf, lehrte und forschte in den USA und lebt heute in London und Istanbul. Das erlaubt ihr sowohl den Blick von innen als auch von außen auf die Türkei. Und zu dem, was sie dort sieht, kann sie nicht schweigen. Gegenüber der FAZ äußert sie Besorgnis über die aktuellen Entwicklungen in ihrer Heimat: „Inzwischen sind wir in der Türkei zu einem zornigen Volk geworden. Die Menschen verstehen einander nicht mehr, sie hören sich nicht mehr zu. Sie begegnen sich so, als kämen sie von unterschiedlichen Planeten.“ Das macht Shafak auch den Politikern zum Vorwurf. Während der Proteste in der Türkei 2013 sagte sie, die türkische Regierung begehe den Fehler, die Ängste der Bürger nicht ernst zu nehmen. Deshalb hätten die Menschen das Vertrauen in die Regierung verloren
Noch besorgniserregender aber findet Elif Shafak, was sie zum Teil in der türkischen Gemeinde in London erlebt. Während sich die Menschen in der Türkei immer stärker von offiziellen Tabus emanzipieren, halten die im Ausland lebenden Türken noch immer an den Werten fest, die sie vor Jahrzehnten in die Fremde mitgenommen haben. Das liegt daran, sagt Shafak, „weil die Emigranten in geschlossenen Gemeinschaften leben, mit einer Kultur, die noch konservativer ist als in der Türkei. Sie sind noch nationalistischer, noch religiöser, noch mehr in sich gekehrt. Die türkische Gesellschaft verändert sich, hier aber verharren die Auswanderergemeinschaften in sich, weil sie ihre Identität bewahren wollen. In solchen Milieus nimmt der Druck auf die Individuen zu. Die Ehre wird dann zum Instrument der Kontrolle, vor allem der Frau.“ (FAZ)
Die „Ehre“ als ein zentraler Begriff der moslemisch geprägten Kultur ist deshalb auch das Thema ihres gleichnamigen Romans, der im kulturellen Spannungsfeld zwischen Bosporus und Themse spielt. Für Shafak ein wichtiges Thema, über das man, zumal in Anbetracht der noch immer gängigen Praxis des Ehrenmordes, nicht schweigen darf. Gegenüber der FAZ erklärt sie: „Leider bringt man das Wort „Ehre“ hier immer mit der Sexualität der Frau in Verbindung. Als gehöre der Körper der Frau nicht ihr allein, sondern der Familie, dem ganzen Clan.“ So ist es auch in ihrem Roman „Ehre“, in dem der junge Iskender zum Mörder wird, um die Ehre seiner Familie wieder herzustellen. Das, was an diesem gewaltigen Roman so erschütternd und nachhaltig wirkt, hat Elif Shafak in einem einzigen Satz sehr gut auf den Punkt gebracht: „Es gab immer zwei Seiten, und nur zwei. Gewinnen oder verlieren. Würde oder Schande. Und wer die falsche erwischte, konnte nicht auf Trost hoffen.“ (Seite 30) In „Ehre“ weiß man von Anfang an, dass es keinen Trost und keine Rettung geben wird, doch an der Erschütterung, die dieser herausragende Roman von Elif Shafak auslöst, ändert das nichts.
Wir empfehlen Ihnen folgende Romane von Elif Shafak:
Lesen Sie außerdem die Autobiografie von Elif Shafak:
Top-Thema
Gesellschaftskritik ist eine wichtige Aufgabe der Literatur. Schon seit der Antike nutzen Dichter die Möglichkeiten der Literatur, um Missstände anzuprangern. Wir zeigen Ihnen, wie sich die Gesellschaftskritik gewandelt hat und welche Bücher Sie gelesen haben sollten.
Top-Thema
Gegenwartsliteratur, die Literatur des Jetzt – wann beginnt sie und wann endet sie? Wer legt fest, was zur Gegenwartsliteratur gehört und was nicht? Was wird aus den Büchern, wenn sie in die Vergangenheit abdriften? Fragen über Fragen, die wir hier klären wollen.
Top-Thema
Der Literaturnobelpreis gilt als bedeutendste Auszeichnung des internationalen Literaturbetriebs. Viele große Schriftsteller erhielten den hochdotierten Preis, der die Krone jeder literarischen Karriere darstellt. Doch viele Autoren, denen man es gegönnt hätte, sind leer ausgegangen. Erfahren Sie mehr über den Mythos des Literaturnobelpreises.