Gesellschaftskritik – Pflicht oder Kür?
Mit der Gesellschaftskritik in der Literatur ist es so eine besondere Sache: Es gibt keine Pflicht zur Kritik, jeder Autor darf auch – ganz nach seinem persönlichen Empfinden – vollkommen unkritisch schreiben, darf sich enthalten und dem Leser seine Meinung verweigern. Und doch sind es genau die Bücher, die das nicht tun, die der Gesellschaft den Spiegel vorhalten, die sie zwingen, hineinzublicken und sich selbst mit all ihren Fehlern und Schwächen darin zu erkennen, die die Gegenwartsliteratur prägen, die zu Bestsellern werden oder den Literaturnobelpreis erhalten. So groß die Begeisterung für die Trivialliteratur auch ist: Wer viel liest, wird nicht umhin können, anzuerkennen, dass Literatur über die bloße Unterhaltung hinaus noch weitere Aufgaben hat. Und eine davon ist zweifellos die Gesellschaftskritik.
Literatur soll unterhalten, ja. Dafür gibt es die beliebten Genres der Frauenromane, Vampirromane, Fantasy-Romane und Abenteuerromane. Der Leser flüchtet sich in Welten, die nichts mit der eigenen zu tun haben, Welten, in denen es andere Probleme gibt. Eskapismus kann man das nennen, die Weigerung, sich mit der unmittelbaren Realität auseinanderzusetzen, die Flucht aus der Wirklichkeit. Die Gesellschaftskritik in der Literatur ist genau das Gegenteil davon. Sie will nicht wegschauen: Sie schaut besonders genau hin. Möglichst wirklichkeitsgetreu möchte der gesellschaftskritische Roman wiedergeben, was er sieht, nicht immer – aber immer wieder – verbunden mit kritischen Äußerungen durch den Erzähler, durch die Charaktere oder durch textimmanente Formulierungen. Während der Gesellschaftsroman sich darum bemüht, möglichst objektiv wiederzugeben, was ihm in der Wirklichkeit begegnet und er in seiner minutiösen, detailgenauen Schilderung den Werken des Naturalismus ähnelt, gibt es auch Werke, die ganz offen mit ihrer Gesellschaftskritik umgehen.
Gesellschaftskritik in der Literatur durch die Jahrhunderte
Die Satire als Mittel der Gesellschaftskritik kannte man zum Beispiel schon in der Antike. Der griechische Kyniker Menippos von Gadara war im 3. Jahrhundert vor Christi der Erste (von dem wir wissen), der Spottdichtungen vortrug, in denen er gesellschaftliche Missstände in überspitzter Form thematisierte. Die Satire, wie sie auch heute noch ein beliebtes Mittel der Gesellschaftskritik ist, hat den Vorteil, dass sie sich viel herausnehmen kann und sich dann dennoch schnell wieder hinter dem Schleier der Unschuld verstecken kann. Obwohl jeder, der die gesellschaftlichen und politischen Hintergründe der jeweiligen Satire kennt, weiß, was gemeint ist, wird die Kritik doch niemals eindeutig und ausdrücklich ausgesprochen. In Zeiten, in denen eine offene Gesellschaftskritik an Hochverrat grenzte und mitunter sogar mit dem Tod bestraft wurde, war die Satire die einzige Möglichkeit zur Gesellschaftskritik.
In der römischen Antike war Satire weniger ein Mittel der Gesellschaftskritik, sondern eine Möglichkeit, sich über Personen des öffentlichen Lebens lustig zu machen und die römische Geschäftswelt und das alltägliche Leben in Rom zum Gespött zu machen. Vor allem die menschlichen Laster, Aberglauben, Untreue und Verrat, waren Themen, mit denen sich die Spottdichter der Antike beschäftigten. Im Mittelalter war Satire genau das Gegenteil von dem, was wir heute darunter verstehen würden. Prangert die Gesellschaftskritik heute die Zweiklassengesellschaft, die Kluft zwischen Arm und Reich, Chancenungleichheiten und Ähnliches an, waren es in der Satire des Mittelalters Verletzungen der Standespflichten oder der christlichen Moral, die Eingang in die Texte fanden. Die Ständeordnung war eine von Gott geschaffene Ordnung – und damit unanfechtbar. Das änderte sich auch in der Renaissance und im Humanismus nicht wirklich, obwohl hier schon eher der Mensch in den Fokus rückte. Die Satiriker wählten noch immer Sitten und Untugenden der Zeitgenossen zum Thema ihrer Schriften. Wirkliche Kritik kann man das nicht nennen.
Auf den Tisch hauen: die Geburtsstunde der Gesellschaftskritik
In der Reformation lassen sich dann erste Anklänge der Gesellschaftskritik in der Literatur finden. Allerdings eher in Form einer Religionskritik. Je nachdem, zu welcher Seite man in der Reformation gehörte – zu den Katholiken oder zu den Vertretern der Reformation – agitierte man in den Streitschriften gegen die jeweiligen Wertvorstellungen und Verhaltensweisen des anderen. Erstmals war die Kritik offensiv und als Angriff gedacht. Die Reformation veränderte die Welt und ebnete damit den Weg zur ersten richtigen Gesellschaftskritik in der Literatur: Im Barock äußerten die Autoren erstmals Kritik an der höfischen Welt, an der Scheinheiligkeit der Gesellschaft, die von sich behauptete, sich am Ideal christlicher Sitten, an Ehrbarkeit und Tugend zu orientieren, diese aber zugleich in ihrem Verhalten gleich selbst ad absurdum führte. In seinem „Simplicissimus Teutsch“ legte Hans Jakob Grimmelshausen diese Diskrepanzen zwischen Selbstwahrnehmung und Realität satirisch und für jedermann sichtbar offen.
Die eigentliche Geburtsstunde der Gesellschaftskritik in der Literatur aber war die Aufklärung. Sie begann als Religionskritik und wuchs sich dann schnell zu einer umfassenden Gesellschaftskritik aus, in deren Zentrum zunächst noch das Elend der Bauern stand. Ihre Blütezeit erlebte die Gesellschaftskritik dann in der Zeit der industriellen Revolution, als die Arbeiter in den Fabriken und Arbeitervierteln unter denkbar schlimmsten Bedingungen lebten und arbeiteten. Der Naturalismus in der Literatur, mit seiner dokumentarischen und akribischen Arbeitsweise, ist eine Reaktion auf diese Entwicklung. Je präziser die Autoren das Milieu und die schrecklichen Lebensbedingungen beschrieben, desto genauer machten sie das Leben der Arbeiter für Außenstehende erfahrbar. Sie glaubten, die Lektüre ersetze die eigene Erfahrung und würde so ein Umdenken erwirken – ein Ansatz, den gesellschaftskritische Werke auch heute zuweilen noch wählen, wenn sie sich in detaillierte Schilderungen von Missständen verlieren.
Literarische Gesellschaftskritik heute und in Zukunft
Und heute? Ist die Gesellschaftskritik tot, jetzt, wo die industrielle Revolution überwunden ist und die Situation der Arbeiter sich deutlich verbessert hat, wo es uns doch hier in Deutschland eigentlich so gut geht? Keineswegs. Noch immer thematisieren gesellschaftskritische Bücher das, was in der Gesellschaft falsch läuft. Die Konsumgesellschaft, die Digitalisierung, Ausbeutung von Ländern der Dritten Welt, Ausbeutung von Arbeitern hier, Stress und Burn-out, Volkskrankheiten, staatliche Überwachung, den Einfluss der großen Konzerne, Menschenhandel und Prostitution, Korruption, Lobbyismus, Antiamerikanismus, den Krieg gegen den Terror, den Krieg gegen Unschuldige, die ungerechte Verteilung der Ressourcen, Umweltzerstörung, radikaler Islamismus, Rassismus und Volksverdummung in den Medien – alles, was die Gesellschaft und das friedliche Miteinander stört, wird zum Thema der gesellschaftskritischen Bücher. Es ist ihre Aufgabe: Sie übernehmen ein bisschen die Kontrollfunktion, überprüfen, korrigieren eingeschlagene Wege, sind die mahnende Stimme der Vernunft, der Menschlichkeit, die sich immer dann aus dem Hintergrund meldet, wenn die Gesellschaft vom Weg abzukommen droht.
In welcher Form die Gesellschaftskritik geäußert wird, ist dabei vollkommen unerheblich. Wichtig ist, dass sie beim Leser ankommt. Wütende Streitschriften, wie „Empört euch!“ oder „Dem Leben entfremdet“, können genauso viel Wirkung erzielen, wie gesellschaftskritische Romane und sogar vermeintliche Werke der Trivialliteratur, die wir schon als bedeutungslos abtun wollten. Denn so wie sich die Autoren der Exilliteratur beispielsweise des Genres des historischen Romans bedient haben, um die aktuellen Vorgänge im Dritten Reich zu kommentieren, so können heute auch Fantasy-Romane, Frauenromane und Vampirromane in gewisser Weise zur Gesellschaftskritik genutzt werden. Unterschwellig zwar nur, doch sie appellieren unterbewusst an das Gewissen, das Moral- und Gerechtigkeitsempfinden des Lesers – und mit etwas Glück nimmt der Leser etwas daraus in das wirkliche Leben mit. Hauptsache ist eben auch hier, dass die Gesellschaftskritik gelesen wird. Als unnahbares Buch, das im obersten Fach des Bücherregals thront und weithin sichtbar ist, nützt sie nichts, wenn niemand sie liest.
Zum Thema Gesellschaftskritik haben wir folgende Buchtipps für Sie zusammengestellt:
Sachbücher Gesellschaftskritik
- Agenda Mensch
- Alt. Amen. Anfang.: Neue Denkanstöße
- Ändere die Welt! Warum wir die kannibalische Weltordnung stürzen müssen
- Anna, die Schule und der liebe Gott
- Arabiens Stunde der Wahrheit
- BLUFF! Die Fälschung der Welt
- Das Buch vom Töten
- Das Ende der Geduld
- Das Imperium der Schande: Der Kampf gegen Armut und Unterdrückung
- Dem Leben entfremdet
- Der Appell des Dalai Lama an die Welt
- Der Fall Mollath
- Der kleine Wählerhasser
- Der NSA-Komplex
- Der Unbequeme
- Deutschland zerfällt
- Die Abwicklung
- Die Gier und das Glück
- Die globale Überwachung
- Die große Volksverarsche
- Die Lastenträger: Arbeit im freien Fall - flexibel schuften ohne Perspektive
- Die Null-Grenzkosten-Gesellschaft
- Die schamlose Generation
- Die Tyrannei der Freiheit
- Die verblödete Republik
- Die verkaufte Demokratie
- Die Wegwerfkuh
- Die Würde ist antastbar
- Ein gutes Herz
- Empört euch!
- Enteignet: Warum uns der Medizinbetrieb krank macht
- Es war einmal... meistens aber öfter
- Es wird eine Rebellion geben
- Freiheit statt Demokratie
- Geplanter Verschleiß
- Geschlossene Gesellschaft: Ein Reichtumsbericht
- Hirn ist aus
- Hotel Fünf Sterne
- Hybris – Die überforderte Gesellschaft
- Ihr müsst bleiben, ich darf gehen
- Kein Schwarz. Kein Rot. Kein Gold
- Krieg der Generationen
- Letzte Zugabe
- Lifelogging
- Mauern einreißen!
- Neukölln ist überall
- Offen für Alles und nicht ganz dicht
- Rettet das Zigeuner-Schnitzel
- Sapere aude! Warum wir eine neue Aufklärung brauchen
- Schwarmdumm: So blöd sind wir nur gemeinsam
- Schwarzgeld, Nummernkonten und andere Steuerlügen
- Sie kennen dich! Sie haben dich! Sie steuern dich!
- Silicon Valley
- Sklavenmarkt Europa
- Smarte neue Welt
- Stadt, Land, Überfluss
- Total beschränkt
- Verfallssymptome
- Warum manche Länder reich und andere arm sind
- Was müsste Luther heute sagen?
- Wem gehört Deutschland?: Die wahren Machthaber und das Märchen vom Volksvermögen
- Wider den Gehorsam
- Wider den Terrorismus
- Wir lassen sie verhungern: Die Massenvernichtung in der Dritten Welt
- Wir sind alle Kannibalen
- Wofür stehst du?
- Zielgerade
Gesellschaftskritische Romane
- América
- Americanah
- Ansichten eines Clowns
- Bessere Verhältnisse
- Cash
- Das Bohren harter Bretter
- Das Sexleben siamesischer Zwillinge
- Der Circle
- Das Museum der Unschuld
- Der Bibliothekar, der lieber dement war als zu Hause bei seiner Frau
- Der Mann ohne Eigenschaften
- Der menschliche Makel
- Der Sieger bleibt allein
- Der tadellose Herr Taft
- Der Untertan
- Deutschland. Ein Wintermärchen
- Die Elenden
- Die Farbe Lila
- Die finanziellen Abenteuer des talentierten Poeten
- Die Katze Autitschko
- Die Kinogänger von Chongjin
- Die Kündigung
- Die Verfluchten
- Die Welt aus den Fugen
- Dschungel
- EGO – Das Spiel des Lebens
- Ehre
- Ein fliehendes Pferd
- Einschlägig bekannt
- Einspruch! Wider die Willkür an deutschen Gerichten
- Er ist wieder da
- Fabian. Die Geschichte eines Moralisten
- Fight Club
- Fräulein Smillas Gespür für Schnee
- Gegenspiel
- German Angst
- Hart auf hart
- Holzfällen: Eine Erregung
- Imperium
- Katzentisch
- Kindeswohl
- Kürzere Tage
- Logoland
- Lolita
- Mann im Dunkel
- Oliver Twist
- Post von ganz oben
- Rave
- Ruhm: Ein Roman in neun Geschichten
- Schlafes Bruder
- Schwarzbuch WWF
- Sickster
- Sturmerprobt
- Unendlicher Spaß
- Unschuld
- Unterm Rad
- Unterwerfung
- Verflucht
- Vincent
- Weil ich euch liebte
- Wenn das Schlachten vorbei ist
- Wer die Nachtigall stört
- Wir Kinder vom Bahnhof Zoo
- Wofür es sich zu leben lohnt
- ZERO – Sie wissen, was du tust
Literaturtipp der Woche
Als der junge Daniel von seinem Vater zum „Friedhof der vergessenen Bücher“ mitgenommen wird, hat er keine Ahnung, dass dieser...
Top-Thema
Jeder Autor möchte einen Bestseller schreiben – und jeder Leser ein Buch lesen, das ihn zutiefst berührt. Wenn diese beiden Dinge zusammenkommen, dann kann dies nur an der magischen Geheimformel für Bestseller liegen.
Top-Thema
Wer eine Satire liest, will nicht nur unterhalten werden und lachen, er will sich zugleich Gedanken über die Welt machen, in der er lebt. Der Blick der Satiriker auf unsere Zeit und unsere Gesellschaft ist deshalb von unschätzbarem Wert. Wir stellen das Genre vor und empfehlen die besten Werke.