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Sturm und Drang: Pubertät der deutschen Literatur

 

Werk des Sturm und Drang Die Leiden des jungen WertherZwischen den Jahren 1765 und 1785 erlebte die deutsche Literatur etwas, was sonst vor allem Eltern bekannt sein dürfte: eine Phase der Rebellion und des Aufbegehrens, einen Umsturz als Kampf gegen das Bestehende, eine Zeit tiefer Emotionalität, in der das Herz mehr galt als der Kopf, Leidenschaft mehr galt als Vernunft, Individualität mehr als Angepasstsein. Es war eine Zeit der Selbstfindung, ein Austoben – kurz: die Pubertät der deutschen Literatur. Die Rede ist vom Sturm und Drang, jener Literaturepoche, die als erste deutsche Jugendbewegung verstanden werden kann. Ihre Vertreter – Johann Gottfried Herder, Gottfried August Bürger, Jakob Michael Reinhold Lenz und natürlich Johann Wolfgang von Goethe, um nur einige zu nennen – waren alle kaum älter als 20 Jahre. Sie alle einte die fehlende Bereitschaft, den „Weltbegebenheiten, Weltläufen“, wie Jakob Michael Reinhold Lenz sie nannte, zu entsprechen. Anpassen, funktionieren, tüchtig sein, wieder verschwinden – das war die Sache der Schriftsteller des Sturm und Drangs nicht.


Der Sturm und Drang war seiner Zeit voraus

 

Sie waren wie die meisten Jugendlichen in der Pubertät und glaubten, sie wüssten alles besser. Vor dem Hintergrund der Aufklärung, die das ganze Land ergriffen hatte, glaubten die Stürmer und Dränger nicht an eine Herrschaft des Verstands, einen Sieg der Rationalität. Für sie war klar: Es gibt Dinge, die kann der Kopf nicht wissen, sondern nur das Herz. Folglich wollten sie ihr Leben nicht von rationalen Entscheidungen bestimmen lassen. „Freiraum“, „Selbstentfaltung“ oder „Lebensqualität“ waren die Losungen der Zeit. Die Dichter schrieben, auch wenn sie davon nicht leben konnten und sich mit „niederen“ Brottätigkeiten über Wasser halten mussten. Sie schrieben auch, wenn niemand las, was sie zu Papier brachten. Sie schrieben um ihrer selbst Willen, weil es ihrem inneren Drang entsprach, weil es das war, was sie als ihre Berufung verstanden. Selbstverwirklichung statt Pflichterfüllung – das klingt für uns heute vertraut. Auch heute soll ein Beruf mehr Berufung sein; die viel beschworene Work-Life-Balance wird immer wichtiger, wenn sich die jungen Menschen überlegen, was sie mit ihrem Leben anstellen wollen. Nicht nur funktionieren, sondern leben, das war der Traum der Schriftsteller des Sturm und Drang.

 

Kurzer Überblick: Der Sturm und Drang in der Literatur


  • Gegenentwurf zur sachlich-rationalen Aufklärung und ihrer Vernunftideologie und zum absolutistischen System bzw. der höfischen Welt des Adels
  • Gefühlsüberschwang und Phantasie statt Diktatur der Vernunft und der Rationalität
  • Geniezeit: Verherrlichung des Genies als „Urbild des höheren Menschen und Künstlers“
  • Sehnsucht nach der individuellen Freiheit und Selbstentfaltung
  • Starke Betonung der Gefühle
  • Enge Verbundenheit mit der Natur
  • Freie Sprache, volksnah und jugendlich: Ausrufe, Halbsätze, Kraftausdrücke, Begriffe aus der Jugendsprache
  • Das Drama als wichtigste Literaturform der Epoche


Damit war die Epoche ihrer Zeit weit voraus. Erst heute können wir ermessen, wie sehr, weil sich viele der Gedanken jener Literaturepoche erst heute gesamtgesellschaftlich durchgesetzt haben. Damals fehlte es an Verständnis für die Beweggründe der jugendlichen Schriftsteller. Die Pubertät ist evolutionär ein recht junges Phänomen und war bis in das 20. Jahrhundert hinein praktisch nicht existent. Man war ein Kind und wurde erwachsen, übernahm Verantwortung und integrierte sich. Eine Phase der Selbstfindung und Orientierung gab es nicht und konnte es nicht geben, wenn ein junger Mensch so schnell wie möglich wirtschaftlich unabhängig werden musste, weil er sonst seinen Eltern die Haare vom Kopf fraß. Heute haben die Jugendlichen Zeit, sich selbst zu erkunden, eigene Fähigkeiten, Stärken und Interessen zu erforschen, herauszufinden, was sie mit ihrem Leben anstellen wollen, und dann den entsprechenden Weg einzuschlagen. Die Vision der Schriftsteller des Sturm und Drang ist damit heute zum Greifen nah. Sie wollten mehr vom Leben, wollten dass jedes Individuum seinen ganz eigenen Platz im Leben hatte. Unterscheidung und nicht Harmonie war das Ziel.

 

Der Sturm und Drang als Rebellion des jungen Goethe

 

Folglich hatte der Sturm und Drang zwar zahlreiche Vorbilder und Ikonen, aber kein einheitliches Programm. William Shakespeare war für die Vertreter der Epoche das „Lieblings-Genie der mütterlichen Natur“ (Heinrich Wilhelm von Gerstenberg) und Goethe ihr erster Star. So entstand die erste Pop-Kultur Deutschlands mit ihrem ganz eigenen Personenkult. Goethe und seine „Leiden des jungen Werther“ erzeugten eine Wirkung, die man heute von Boybands, von Justin Bieber und Edward aus den „Bis(s)“-Romanen von Stephenie Meyer kennt. Goethe kann deshalb mit Fug und Recht als erster Popstar der deutschen Geschichte bezeichnet werden. Überhaupt ist Goethe im Kontext des Sturm und Drangs sehr interessant zu betrachten: der Sturm und Drang als Pubertät und Selbstfindungsphase des großen Dichterfürsten. Johann Wolfgang von Goethe war zarte 16 Jahre alt, als der Sturm und Drang aufkeimte. Zu dieser Zeit schrieb der Junge noch empfindsame Gedichte, die nur so vor Naturverehrung strotzten. Zwanzig Jahre später läutete Goethe, der sich mit dem „Werther“ zur Ikone der Epoche vorgearbeitet hatte, selbst das Ende des Sturm und Drangs ein.

 

Werk des Sturm und Drang Kabale und LiebeDen „Werther“ hatte Goethe in einer Zeit geschrieben, in der sich ihm vor vergeblicher Liebe der Kopf drehte und er seiner eigenen Gefühle kaum Herr werden konnte. Wie bei allen Schriftstellern des Sturm und Drangs drehte sich seine Welt ausschließlich um ihn, er war vollends mit der Selbstfindung und -werdung beschäftigt, so wie es auch Jugendliche in der Pubertät sind. Sie haben keinen Blick für die Bedürfnisse und Befindlichkeiten der Menschen um sie herum. Doch als Goethe auf seine legendäre Italienreise ging, weitete sich seine Perspektive. Erstmals blickte der Dichter über den Tellerrand und die Grenzen des Ichs hinaus, sah die Welt, sah seinen Platz in ihr, verstand, wie sich alles zusammenfügte – und begründete kurzerhand eine neue Epoche: die Weimarer Klassik in der Literatur. Ihre Leitsätze -  Schönheit, Erhabenheit, Kunst um der Kunst wegen, Orientierung an der römischen Antike mit ihrer exakten Definition von Schönheit – machten sie zu einer objektiven Epoche, in der für die subjektiven Befindlichkeiten des Sturm und Drangs kein Platz mehr war.

 

Wie wir uns heute im Sturm und Drang wiederfinden


Der Sturm und Drang endete also, als Goethes Selbstfindungsphase (also Pubertät) endete. Der Autor, Feuilletonist und Filmkritiker Georg Seeßlen rät deshalb, den „Faust“ einmal „als Auseinandersetzung des gesetzten Autors mit dem literarischen und vitalen Rotzlöffel [zu] lesen, der er mal war“ und degradiert den Sturm und Drang damit zu einer Jugendsünde“ Goethes. Doch der Sturm und Drang hat seine Daseinsberechtigung, heute genauso sehr wie damals. Ohne den Sturm und Drang hätte es Goethes Spätwerk nicht gegeben. Doch die „Epoche ist mehr als eine „simple Generallinie von jugendlicher Revolte zu klassischem Maß“ (Georg Seeßlen). Auch in sich selbst hat sie viel zu bieten. Denn was wäre die deutsche Literatur ohne „Die Leiden des jungen Werther“, das Werk der Weltliteratur, in dem sich die jungen Menschen in ihrer Phase des Austobens, der Selbstfindung, der Rebellion, des Ich-Werdens noch heute wiederfinden?

 

Der Sturm und Drang war für die Deutsche Literatur – und die Kulturgeschichte als Ganzes – so wichtig, wie die Pubertät für die Entwicklung des menschlichen Individuums. Hier wurde erstmals formuliert, dass das Leben und die Verhältnisse unerträglich sein können, und die Selbstermächtigung auch die Selbstzerstörung umfasst. Man denke nur an den Freitod des Werther, der daraus resultierte, dass der Held neben der hoffnungslosen Liebe auch keine Chance einer „Gleichstellung“ und Selbstverwirklichung sah. Damit entspricht der Sturm und Drang unserer heutigen Zeit mehr als die meisten anderen Epochen der Literaturgeschichte. In ihrem Individualisierungsdrang und ihrer beinah unerträglichen Sehnsucht nach Selbstverwirklichung und Entfaltung erkennen wir uns heute in ihr wieder und fühlen uns als ganze Generation verstanden. Darin liegt die besondere Bedeutung dieser Literaturepoche für uns heute. Es lohnt sich also, die Werke des Sturm und Drang hervorzuholen und „Werther“ & Co. außerhalb des Klassenraums noch einmal ganz neu und unvoreingenommen zu begegnen.

 

Die besten Werke des Sturm und Drang haben wir hier für Sie zusammengestellt:

 

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